Ludger Verst, veröffentlicht am 15. März 2016

„Wir gut, ihr schlecht!“

Foto: Christoph Thorman / photocase.de

Foto: Christoph Thorman / photocase.de

Wer Polit-Parolen glaubt, hört nur die halbe Wahrheit

Von Ludger Verst

Die Wahlergebnisse vom Sonntag mit dem Einmarsch der nationalkonservativen AfD in gleich drei Landtage haben viele noch nicht zur gewohnten Tagesordnung zurückkehren lassen. Im theologischen Feuilleton des Webportals feinschwarz.net hat sich denn auch der Pastoraltheologe Rainer Bucher mit einem nachdenkenswerten Kommentar zu Wort gemeldet. Er sagt, eine der verborgenen Leistungen von CDU und CSU sei es bislang gewesen, „den immer vorhandenen, latent anti-demokratischen „rechten Sektor“ der deutschen Gesellschaft eingebunden und politisch weitgehend neutralisiert zu haben“. Dies sei ein interessanter Umstand, zu dem hinzukomme, dass die bisherigen beiden Volksparteien auf dem rechten wie auf dem linken Flügel die „Leere und Unbarmherzigkeit der kapitalistischen Kultur“ im Grunde ideologisch unterschätzt hätten. Spätestens seitdem „der Kapitalismus nach 1989 global und bis auf den indiskutablen islamischen Fundamentalismus praktisch konkurrenzlos in Schwung gekommen“ sei, dringe diese Leere und Unbarmherzigkeit und auch Ungerechtigkeit in die Alltagswelt vieler Menschen.“ Auf diese undurchsichtige Stimmung von Überforderung und Unsicherheit im Lande reagiere die AfD mit einer „Politik des Ausschlusses“. Wer nicht mehr wisse, wo Freund und Feind stünden, brauche den Schnitt zwischen Innen und Außen, zwischen „denen“ und „uns“, brauche den Ausschluss der Anderen, um mit seiner „Angst vor der Angst“ fertig zu werden.

So scharfsinnig dies erkannt wird, so spannend wäre es nun, Konsequenzen zu erörtern. Und da eine Rückkehr zu vormodernen Identitätsmustern und alten Sicherheiten ausgeschlossen ist, stellt sich die Frage: Woher können neue kommen?

Wir beherrschen die Realität, …

In dieser dramatisch-unübersichtlichen, kollektiven Frontstellung herrscht nicht erst seit Sonntag initiativlose Windstille. Denn mit der Bekanntgabe politischer Demarkationslinien und der Feststellung unüberwindbarer Gräben scheint es Meinungsführern fürs erste getan zu sein. Der bei weitem größere Aufwand aber wird noch zu leisten sein, um die Frontstellungen wieder zu lockern und die Hintergründe der Angst ganzer Bevölkerungsschichten ehrlicherweise hervorzubringen, zu benennen und anzuschauen. Im Wahlkreis Bitterfeld verbuchten die Rechtspopulisten der AfD ein Erststimmenergebnis von 33 Prozent. Wer die aggressiven, dann wieder frustrierten oder gleichgültigen Reaktionen der Bürger erlebt, fragt sich mit Recht, wie dieser gewaltigen Protest- und Abschottungstendenz überhaupt begegnet werden kann.

Die Beweggründe vor allem der Protestwähler in Ostdeutschland müssten verstanden und analysiert werden. Dazu bräuchte es als erstes eine Differenzierung zwischen AfD-Aktiven und solchen, die AfD wählen. Eine moralische Front gegen alles rechts der CDU würde lediglich ein „Wir gut, ihr schlecht“ transportieren und zu einer weiteren Spaltung der Bevölkerung in Deutschland führen. Dies ist im Grunde längst passiert. Viele fühlen sich in ihrem Protest, in ihren Ängsten nicht ernstgenommen. Hinter dem Sammelsurium an Protestinhalten ist eine Irrationalität am Werk, die viele Gründe hat und durch politische Etikettierungen nicht gelüftet wird.

… sind aber hilflos im Umgang mit der Wirklichkeit.

Hans-Joachim Maaz, Psychiater und Vorsitzender der Stiftung Beziehungskultur in Halle, weist darauf hin, dass hinter Feindbildern wie „Flüchtlinge“, „Asylanten“ und Schlagwörtern wie „Überfremdung“ und „Islamisierung“ Ersatzthemen lägen, in denen andere, existenzielle Themen verborgen seien, deren Tragweite erkannt und analysiert werden müsste. Im Kern dieser Themen steckten nämlich Befindlichkeiten realer Bedrohung, ein Überschuss vor allem von Angst. Aber – wohin damit? Die Gesellschaft stellt faktisch keine Orte zur Verfügung, an denen solche Energien unmittelbar, zunächst ganz und gar unpolitisch, also gerade nicht im Spiel von Demonstation und Gegendemonstration, erwünscht wären. Und so drängt sich die Frage auf, ob eine Demokratie ihre Anhänger nicht nur formal und äußerlich, sondern vor allem und zuerst innerlich demokratisieren müsste, wenn sie wirklich Volkes Stimme repräsentieren will. Äußere Demokratisierung ist keine Kunst. Die ist den Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg und nach 1989 im Grunde zweimal in die Wiege gelegt worden. Innere Demokratisierung aber wäre ein innerseelischer Prozess, der Fehlentwicklungen, Verstrickungen, enttäuschte Hoffnungen, insbesondere in Ostdeutschland, als legitim, ja not-wendig zur Sprache kommen ließe. Den inneren Fremdheiten, der Entfremdung vom eigenen persönlichen und natürlichen Leben, der eingangs zitierten „Leere und Unbarmherzigkeit“ müsste nachgegangen werden. Das gehört zur Demokratisierung dazu.

Diese Entwicklungs- und Bewältigungskosten aber will so gut wie keiner übernehmen. Für die Parteien gehören sie nicht mehr zum Teil ihrer politischen Analyse. Die Gewerkschaften vertreten Parteiinteressen. Der Sport kann soziale und psychische Belastungen nur bedingt auffangen und umlenken, aber nicht lösen. Bleiben Sozialverbände und Kirchen. Aber auch hier werden im Moment mehr Fronten erhoben als abgebaut. In politischen Stellungnahmen geht es um klare Grenzziehungen im Sinne der Demokratie. Man bleibt bekenntnishaft unter sich. Das ist verständlich, aber bei weitem zu wenig.

Wer baut den Enttäuschten eine Klagemauer?

Wo also bieten sich niederschwellige Orte gewaltfreier, lautstarker Auseinandersetzung? Orte, an denen geschimpft, Wut herausgelassen, Angst und Enttäuschung artikuliert werden können, ohne gleich Lösungen parat zu haben? Wo Menschen jammern und sich auf Augenhöhe ihr Leid klagen dürfen? Oder anders gefragt: Wo kann ich lernen, Empathie zu entwickeln für den, den ich nicht mag, um mir einen Moment lang die Welt mit seinen Augen anzusehen? Wer kann mir Mut machen, mich in die Höhle des Anderen zu begeben?

Ich vermisse Zivilcourage, die nötig ist, nicht nur um Grenzen zu setzen, sondern ebenso zu erforschen, wo und wie ich sie mit dem Anderen auch wieder überwinden kann. Ich wünsche mir Bischöfe und Vorsitzende, die vor Wahlsonntagen nicht nur sagen, was Christen dürfen oder nicht, sondern auch Verständigungsfährten legen, um mit Wutbürgern und Populisten in streitbare Gespräche zu kommen. Statt von solchen auszuschließen.

Wer sich abgestempelt fühlt und ausgeschlossen, wird sich darum bemühen, die Mauer zwischen sich und dem Rest der Welt noch höherzuziehen. Das aber macht die Spaltung perfekt. Nichts Anderes ist die Absicht der AfD.

Zum Autor:

Ludger Verst ist Inhaber von INTERFAITH – Labor für soziale Kommunikation – in Dreieich. Nach 25 Jahren in der Medienarbeit der katholischen Kirche ist Verst als Berater, seit 2016 auch als Schul- und Krisenseelsorger im Bistum Mainz tätig.