Frank Reintgen und Jan Christoph Horn, veröffentlicht am 12. September 2017

Kirche – ein selbsterhaltendes System. Eine Problemanzeige

von Jan-Christoph Horn

„Die Welt ist klein“, sagt man manchmal, wenn man jemanden an unerwarteter Stelle oder zu unerwarteter Gelegenheit trifft. Mir passiert das in Kirche ständig. Gefühlt tauchen überall die gleichen Leute auf. Und ich treffe immer die, die ich kenne. Ist klar: Die anderen kenne ich ja nicht.

Mich hat das ins Nachdenken gebracht: Drehen wir uns um selber? Der nachfolgende Beitrag schaut aus systemischer OE-Perspektive auf das Phänomen und beschreibt den Unterschied zwischen Drehwurm und Veränderungsentwicklung.

Zunächst mal: Die Welt ist nicht klein. Systeme sind „klein“. Zumindest bilden Systeme Geschlossenheit und dadurch Stabilität. Denn Systeme konstruieren sich, indem sie Kontingenz – einen offenen, unabgeschlossenen, unsicheren, unüberschaubaren Zustand – solange bearbeiten, bis die Differenzen geklärt und „Innen“ und „Außen“ hergestellt sind.

Auch die Kirche ist nichts anderes als ein soziales System. Auch sie strebt nach dem Selbsterhalt durch Reproduktion seines Gleichen – die Systemtheorie nennt das Autopoiesis. Im ländlichen Raum und in nicht stark kirchlich geprägten Regionen ist das genauso zu beobachten wie im urbanen Kontext. Hier wie da trifft man auf das, was man umgangssprachlich „Dorflogik“ nennen kann. Man bleibt gerne bei sich und seinesgleichen. „Andere“ und „Neue“ werden gerne gesehen – solange sie mitmachen.

Daraus kann man keinen Vorwurf machen, es ist für ein soziales System – also auch für andere Organisationen wie Parteien oder Vereine – normal. Aber der Organisations- bzw. Kirchenentwickler grübelt darüber nach. Vor allem, wenn in den pastoraltheologischen Leitlinien und (gefühlt) jedem zweiten Leitbild einer Pfarrei etwas von Offenheit und „auf die Menschen zugehen“ steht.

Doch wie gelingt einem System im Selbsterhalt Öffnung?1 Oder pastoraltheologisch formuliert: Wie wird die Kirche zu einer lebendigen, missionarischen Organisation? Bei einer inhaltlichen Botschaft, die nur so von Öffnung, Überraschung, Veränderung übersprießt?

Die erste Herangehensweise: Kontexterweiterung

In jüngster Zeit wurden verschiedentlich ein paar „Programme“ ins Leben gerufen: Suche nach pastoralen Mitarbeitern jenseits der kirchlich erreichbaren Milieus, Förderung von weiblichen Führungskräften in Leitungsämtern der bischöflichen Behörden, leitende Mitverantwortung in Pfarrei und Gemeinde von sogenannten Ehrenamtlichen. Man ist auf diese „Entwicklung“ mächtig stolz.

Der Systemiker erkennt: Aha, eine Kontexterweiterung. Das Problem ist: eine solche optimiert nur das bestehende System – die Systemlogik selber bleibt aber gleich. Bestehende Muster der Organisation werden verlängert (der systemische Organisationsentwickler nennt das „Lernen 1. Ordnung“), es erfolgt kein „Sprung“ in der Organisationslogik (das wäre „Lernen 2. Ordnung“). So kann man den verstärkten Blick in den Sozialraum loben. Man holt die „Zeichen der Zeit“ näher zu sich. Aber lässt sich eine kirchliche Organisation, beispielsweise eine Pfarrei, von diesem Blick verändern? Gibt es einen Unterschied, der die Geschichte der Pfarrei in der Pfarrchronik in ein „Bevor wir in unseren Sozialraum schauten“ und „Nachdem wir in unseren Sozialraum schauten“ unterscheiden lässt?

Freilich, auch eine Kontexterweiterung ist schon eine Veränderungsleistung: eine Anpassungsveränderung. Aber eine Kontexterweiterung ist und bleibt binnenorientiert. Sie schöpft neue Ressourcen ab – aber nach den bestehenden Mustern und innerhalb der üblichen Routinen. Das ist keine nur schlechte Nachricht, denn es verschafft ein wenig Luft. Aber es geht nur so lange, wie Ressourcen dafür da sind bzw. aus dem System heraus gesehen werden. Denn irgendwann gibt es bestimmt doch eine Grenze dafür, wie neu eigentlich pastorale Mitarbeiter „neuen Typs“ sein dürfen und dass Frauen in Leitungspositionen gut sind, aber nicht die in gleichgeschlechtlicher Ehe lebende Frau. Zack – da wird ein Unterschied gemacht, die Differenz zwischen Innen und Außen definiert.

Der Knackpunkt: Die unterschätzte Wirkmacht von Leitunterscheidungen

Eine wirkliche Entwicklungsveränderung muss anders aussehen. Und die hat nicht nur etwas mit der Erweiterung von „Innen“ zu tun.

So wie jedes System hat Kirche ein „Außen“, von dem sie sich durch Unterschiede unterscheidet. So wie jedes soziale System hat Kirche sich Leitunterscheidungen gegeben, „Codes“ die zwischen Innen und Außen unterscheiden. Gemeint sind nicht nur regulatorische, sondern tieferliegende Kommunikationen, vereinfacht gesagt, Positionen, die für Kirche relevant sind, auf die Kirche reagiert, an denen sie gewissermaßen einen Punkt setzt. Oder mit einem großen Wort: eine Kultur. Menschen sind sehr sensibel für solche Codes, Leitunterscheidungen und Kultur. Und sie reagieren nur auf Systeme, die relevant sind. Alle anderen Impulse werden wie ein Rauschen wahrgenommen und erzielen keinerlei Wirkung.

Nun codiert sich die zeitgenössische Kirche (in Europa) aus Überbleibseln des Antimodernismuskampfes an der Wende zum 20. Jahrhundert, dem Kulturkampf zu Beginn des 21. Jahrhunderts und der Restaurationsphase nach dem 2. Weltkrieg. Damals getroffene Leitunterscheidungen – man denke an die beiden vatikanischen Konzilien – sind in der Dogmatik, der Sprache, der liturgischen Kasuistik und bestimmenden Strukturen (Bedeutung des Haupt- und als Gegenpol Ehrenamtes, Betonung des Rechts, Verwaltungshoheit, Ethik der Lebensführung u.a.) präsent.

Aber die Welt ist weitergegangen. Und die Menschen möchten gerne im Heute leben, müssen heutige Kontingenz bearbeiten und Sinn bilden und finden auch Möglichkeiten, das zu tun. Das aber hat Konsequenzen für die System-Umwelt-Koppelung der Kirche.

Eine Kirche, deren Leitunterscheidungen nicht mehr relevant sind, wird unsichtbar. Es ist so wie in Michael Endes „Unendlicher Geschichte“: Das „Nichts“ löst die Wirklichkeit der Kirche auf. Wo früher etwas war, ist dann noch nicht mal mehr Ödnis. Da ist nichts. Eine solche Organisation ist dann nicht mehr nur in einer Krise. Sie ist nicht mehr im Existenzkampf. Sie ist – trotz aller scheinbaren organisatorischen Kraft: Geldmittel, Mitarbeiter, Strukturen etc. – in Auflösung begriffen.

Warum der Selbsterhalt zur Selbstauflösung führt

Die die Kirche umgebende Umwelt hat in weiten Teilen ihr Interesse an der Kirche verloren. Aber nicht, weil christlicher Glaube „falsch“ oder „schlecht“ ist. Nein, es sind die Leitunterscheidungen, die Kirche falsch setzt. Denn da es die „Codes“ sind, die das System in der Umwelt konstruieren – im Bild gesprochen: sichtbar machen –, scheint die Kirche die Codes falsch zu setzen. Die Analyse der Probleme ist nicht neu. Um nur die beiden wichtigsten zu nennen: Sprache und Geschlechterverständnis.

Es sind unterschiedliche „Codes“, die erklären lassen, dass viele Familien, die mit Kirche an sich nichts zu tun haben, ihr Kind zur Erstkommunion „bringen“ und allen Tam-Tam erwarten, der für sie dazugehören muss und engagierte Pastoralarbeiter frustriert sind, weil unser Angebot doch eigentlich ein ganz anderes ist. Unterschiedliche Codes! Oder warum wiederverheiratet Geschiedene und Homosexuelle, denen neuerdings zumindest ein paar mehr Türen in der Kirche offenstehen, dankend ablehnen. Verschiedene Leitunterscheidungen! Sie suchen nach bestimmten Codes, die sie nicht finden. Die „reformorientierten“ Kirchenmacher schimpfen da auf die immer noch zu restriktiven Kirchenfürsten, ohne zu merken, dass sie selber die Codes/Leitunterscheidungen bedienen, die für die meisten Menschen uninteressant sind.

Eines ist also klar: Ohne Veränderungen bei den Leitunterscheidungen wird der mit Recht herbeigerufene Kulturwandel nicht funktionieren.

Es ist so traurig wie bei der SPD. Sie setzt im Bundestagswahlkampf auf das Thema „Gerechtigkeit“ und wundert sich, dass die Wahlprognosen weit hinter den Erwartungen zurückbleibt. Weil das Thema die Menschen nicht berührt. Zu behaupten, das Thema wäre aber wichtig, manifestiert nur die Fremdheit dieser Leitunterscheidung.

Es braucht Relevanz, Koppelung. Ein soziales System „ist“ im Gegensatz zu formalen Organisationen nicht per se und nicht „weil es immer schon so war“ oder es mal einfach behauptet wird, sondern es konstruiert sich durch Leitunterscheidungen, die einen Unterschied machen. Wo es keinen Unterschied gibt, ist Nichts.

 

Nur Kirche als lernende Organisation ist eine relevante, sichtbare, kontaktfähige Organisation

Agile Organisationen erkunden Interessen, Kunden, Märkte und positionieren sich dort. In Kirche ist heute an dieser Stelle kaum ein Agieren, eine Kontur. Es reicht nicht, dies in Hörsälen, Akademien und einzelnen bischöflichen Abteilungen zu tun, in versprengten Verbänden oder einzelnen Hilfswerken. Es muss die Grundlogik der Kirche sein.

Der Blick in die Weltkirche lenkt die Hoffnung auf dort gelingende Strukturen. Man kann davon auch lernen. Für den kirchlichen Organisationsentwickler spannend ist aber auch der Blick auf die dort getroffenen Leitunterscheidungen zwischen „Innen“ und „Außen“. Meine These ist, dass die Kirche dort beneidenswert lebendig ist, nicht weil die Strukturen besser und theologisch angenehmer sind oder die Taufgnade wirkt. Sondern weil die Kirche dort mit Leitunterscheidungen zwischen System und Umwelt agiert, die Kirche und Menschen koppeln. Sprich: Kirche mit ihren Themen und ihren Formaten relevant ist für die Menschen.

Interessant zu sehen ist, dass sich die deutschen Diasporadiözesen als erstes die Frage gestellt haben, wie man im Niedergang lebendig wird. Und dass diejenigen, die sich dagegen ansehen, dass die Kirche einfach so verdunstet, geistlich inspirierte Menschen sind. Menschen, die glauben, dass Gott selber den Weg seiner Kirche lenkt. Das eröffnet Räume mit Mut und Vertrauen. Denn wo es nur etwas zu gewinnen gibt, braucht man keine Angst davor haben, etwas zu verlieren.

Nun kann die Kirche laut Gründungsauftrag nichts anderes tun als das Evangelium zu verwirklichen, also die Barmherzigkeit und Gerechtigkeit Gottes in das Leben der Menschen hinein zu zu verkünden und Menschen in die Nachfolge Jesu zu rufen. Sprachspiele und theologische Schulen mögen variieren, aber die inhaltliche Bandbreite ist begrenzt. Wie also entsteht die Varianz, die eine veränderte System-Umwelt-Koppelung ermöglicht, mit der die Umwelt es wieder reizvoll findet, das kirchliche System als relevant zu empfinden?2

Ein auf Gewinnmaximierung gegründetes Unternehmen hat es da vermeintlich leicht. Wenn das Produkt A nicht mehr läuft, probiert man es mit Produkt B und passt das Marketing, die Expertise und das Personal entsprechend an. BMW hat mal Flugzeugmotoren hergestellt, bei REWE bekam man früher kein Bargeld ausgezahlt und Samsung war ursprünglich ein Lebensmittelkonzern. Aber Kirche kann nicht statt Gnade und Barmherzigkeit auf einmal etwas anderes verkünden.

 

Maßnahme gegen den Selbsterhalt: Evolution statt Revolution

Auch ich als kirchlicher Organisationsberater habe kein Patent. Aber eine Idee: Probieren wir es! Was wie ein schaler Witz klingt, weil es so einfach scheint, ist eine nicht triviale Veränderung der kirchlichen Logik: Scheitern dürfen, Opfer bringen, Dinge vom Ende her gesehen nutzlos tun, in Treue zur Sendung bleiben. Aber wenn Entwicklung nicht darin besteht, Kontexte mit Musterverlängerung zu erweitern, und wenn die Umwelt das Interesse an der Auseinandersetzung verloren hat, bleibt wirklich nur von innen her zu rütteln. Kriterium: auf dem Grat zwischen System und Umwelt zu wandeln. Bischöfliche Innovationsfonds denken vermutlich zu sehr von innen, Gemeindegründung „ganz anders“ sind abgekoppelt vom Gesamtsystem. Als Pastoralberater erlebe ich aber die kleinen Aufbrüche, wo einzelne Menschen mit glänzenden Augen vor einem stehen und von einem Aufbruchserlebnis berichten. Diese Menschen brauchen Mentoren.

Haben Sie einen Rollkoffer? Viele werden einen haben. Wissen Sie, wie viele Prototypen es gebraucht hat, wie viele Ideen ausprobiert wurden, bis jemand auf die Idee kam, dass man die zwei zusätzlichen Rollen so-und-so anbringen muss und dann läuft’s?3 Die Testkunden berichteten: Der Rollkoffer bleibt ein Koffer (alles andere hätten sie nicht akzeptiert) und ist doch – relevanter. So kann auch der Glaube der Glaube bleiben, wenn wir mal ein paar Dinge probieren und die Menschen fragen, ob das für sie relevanter ist.

Merken Sie es? Das wäre der Ausbruch aus der Binnenlogik ohne Aufgabe der inneren Logik. Um Jesus zu paraphrasieren (vgl. Mt 5,17): Es geht nicht darum, die Überlieferung aufzuheben, sondern sie zu kontextualisieren. Und da es um Leben oder Tod der Kirche als relevantes soziales System geht (… und das Kirche ein soziales System ist, entspricht ihrem Auftrag), empfehle ich, sich für ein gewandeltes Leben zu entscheiden als für einen langsamen Tod.

Es gibt verschiedene Initiativen – freshX, Kirche2, Projekte des ZAP oder KAMP – die sich darangemacht haben, die Muster des Systems ins Gespräch zu bringen mit dem Ziel, diese nicht zu feiern, sondern herauszufordern. Ich finde sie alle gut. Hier irritiert Kirche sich selber. So lange keine behauptet, die Lösung zu haben. Denn dann wäre man der Versuchung erlegen, doch wieder einem bestimmten Pfad zu folgen und folglich in Geschlossenheit zu gehen. Denn Relevanz kann man nicht machen. Passende Leitunterscheidungen kann man nicht konstruieren, sie zeigen sich. Dafür braucht es ein Sensorium. Jede Programmatik birgt die Gefahr der Schließung. Beschäftigen wir uns lieber damit, so erklingt es auch von prominenter Stelle, „Prozesse in Gang zu setzen anstatt Räume zu besitzen“4.

„Nicht die Entscheidung ist wichtig. Sondern die Suche danach, was es zu entscheiden gilt.“5

Eine Kirche, die nur sich selbst (er)hält, erwartet nichts mehr als das Nichts. Ja, stimmt, man muss dann stattdessen wachsam sein, ist nie fertig. Aber das Wissen darum trägt unsere Kirche seit Jahrhunderten in sich und bringt diese voran und neu hervor. Theologisch gesprochen: Das Reich Gottes liegt immer vor uns. Adveniat regnum tuum6. Und wir sind nicht die tragende Kraft. Fiat voluntas tua.

Zeit, sich daran zu erinnern. Und damit einen Unterschied zu machen. Das wäre mehr als Nichts. Es wäre: relevant.

 

1Für eine grundsätzliche aber (auch im Blick auf die Seitenzahl) nicht zu dicke Einführung in die systemische OE empfehle ich Grossmann/Bauer/Scala: Einführung in die systemische Organisationsentwicklung. Carl-Auer, Heidelberg 2015.

2 Interessante Aufsätze zu Zeiten der Kirchengeschichte, in denen die System-Umwelt-Koppelung auch zumindest angeschlagen war und wie damit umgegangen wurde, finden sich in Merkt/Wassilowsky/Wurst (Hrsg.): Reformen in der Kirche. Historische Perspektiven. Quaestiones disputatae, Band 260. Herder, Freiburg 2014.

3 Wen die Geschichte interessiert: www.spiegel.de/einestages/erfindung-des-rollkoffers-a-947400.html.

4 Papst Franziskus, Evangelii Gaudium 223.

5 Arturo Sosa SJ, Generaloberer der Jesuiten

6 „Dein Reich komme“. Und später: „Dein Wille geschehe“.

 

Der Artikel erschien erstmals als Beitrag im Blog Kirchententwicklung. Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Autors.